Jeder vierte Patient, der auf eine Intensivstation eingeliefert wird, ist mangelernährt. Viele Patienten können zudem aufgrund ihrer Verletzungen zunächst nicht selbstständig essen. Eine neue Leitlinie – die jetzt noch um evidente Empfehlungen zur Erfassung und Verlaufskontrolle des Ernährungsstatus ergänzt wird – soll Intensivmedizinern dabei helfen, ihre schwerkranken Patienten optimal zu ernähren. „Ein Ziel der künstlichen Ernährung von kritisch Kranken ist es, neben der Kalorien- und Substratzufuhr Einfluss auf Entzündungsprozesse und den Krankheitsverlauf insgesamt zu nehmen“, erläutert Professor Arved Weimann (Foto), Sprecher der Sektion „Metabolismus und Ernährung“ in der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Weimann war gemeinsam mit Vertretern von insgesamt acht wissenschaftlichen Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) an der Erstellung der S2k-Leitlinie „Klinische Ernährung in der Intensivmedizin“ beteiligt.
Das Papier fasst erstmals den aktuellen Wissensstand über alle Formen von künstlicher Ernährung in der Intensivmedizin zusammen. Zuvor existierten mehrere getrennte Leitlinien, die zum Teil mehr als zehn Jahre alt waren. „Sie mussten dringend aktualisiert werden“, betont Weimann. „Für die Leitlinie haben wir unter der Leitung von Privatdozent Dr. Gunnar Elke aus Kiel und Professor Wolfgang Hartl aus München die gesamte verfügbare wissenschaftliche Literatur zum Thema gesichtet, um daraus Empfehlungen für die nach dem aktuellen Wissen bestmögliche Vorgehensweise zu entwickeln.“
Entwickelt: Ein Algorithmus zur Berechnung des Kalorienbedarfs von Intensivpatienten
Ein zentrales Thema der Leitlinie ist, wie viele Kalorien ein Intensivpatient täglich benötigt. „In dieser kritischen Phase der Erkrankung darf man auf gar keinen Fall mit einer Überlastung dem Organismus schaden, muss aber auf der anderen Seite verhindern, dass der Körper weiter ausgezehrt wird“, erklärt DIVI-Experte Weimann. „Immunabwehr und Wundheilung sind schließlich Prozesse, für die der Körper Energie benötigt.“ Um dem Rechnung zu tragen, haben die Fachleute einen Algorithmus entwickelt, mit dem Intensivmediziner Tag für Tag den Kalorienbedarf ihrer Patienten individuell berechnen können.
Auch zur Zusammensetzung der Ernährung enthält die Leitlinie wissenschaftlich fundierte Empfehlungen. „Eine wichtige Frage ist, wie viel Eiweiß Bestandteil der künstlichen Ernährung sein muss“, erläutert Weimann. Eiweiß ist notwendig, damit dem Körper Bausteine für die Wundheilung zur Verfügung stehen und so der Abbau von Muskeln gebremst wird. Zusätzlich hat sich die Arbeitsgruppe damit befasst, ob Vitamine, Spurenelemente oder spezielle Aminosäuren, die der Ernährung zugesetzt werden, „Einfluss nehmen können auf das Immunsystem, um in dieser kritischen Phase der Erkrankung zur Besserung und Erholung des Patienten beizutragen“, so Weimann. Als generelle Empfehlung geben die Experten an, dass die künstliche Ernährung immer jene Mengen an Mikronährstoffen enthalten soll, die auch für Gesunde empfohlen werden.
Die passende Ernährung für jede Phase der Erkrankung: Bisher kaum Studien
Die Erkrankung von Intensivpatienten verläuft in mehreren Phasen. Nach einer Akutphase von mehreren Tagen schließt sich meist eine Erholungs- und Rehabilitationsphase an. Bessert sich die Krankheit über einen längeren Zeitraum nicht, durchläuft der Patient eine chronische Phase. „Jede Phase erfordert eine andere Vorgehensweise bei der Ernährung“, erklärt Weimann. Entsprechend orientieren sich die Autoren der Leitlinie bei ihren Empfehlungen bereits an dieser Gliederung. „Das werden wir bei der nächsten Überarbeitung noch stärker berücksichtigen müssen“, fordert Weimann. „Allerdings haben Studien dieser Aufteilung des Krankheitsverlaufs bisher kaum Rechnung getragen. Das muss sich ändern.“
Expertenkonsens diskutiert Empfehlungen für COVID-19-Patienten
„Bei der Erarbeitung der Leitlinie haben wir festgestellt, dass die Evidenz für die Empfehlungen zur Erfassung und Verlaufskontrolle des Ernährungsstatus auf der Intensivstation sehr mäßig ist“, sagt Arved Weimann. Diese Lücke soll nun mit einem erweiterten Expertenkonsens geschlossen werden. Ein virtuelles Symposium der DGEM zusammen mit der DIVI-Sektion „Metabolismus und Ernährung“ wird aktuell für den 20. und 21. November vorbereitet (www.dgem.de). Hier sollen auch aktuelle Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel für den COVID-19-Patienten diskutiert werden. „Eine zielgerichtete Ernährungstherapie kann einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass der Patient überlebt, schneller von der Intensivstation entlassen werden kann und sich auch danach besser erholt und rehabilitiert werden kann“, sagt Arved Weimann.
Zum Nachlesen: Die aktuelle S2K-Leitlinie „Klinische Ernährung in der Intensivmedizin“
Foto: Prof. Dr. Arved Weimann